27. Juli 1918


Scheidemann zum 18. Juli.
  

Der Abgeordnete Scheidemann hat sich in der ihm eigentümlichen Weise mit der Demonstration der Solinger Arbeiterschaft in der Versammlung vom 18. Juli abgefunden.    In einem „Solingen“ überschriebenen Artikel, der gleichzeitig im „Tageblatt“ und der „Solinger Zeitung“ erschien, setzt er seinen Zeitgenossen ein krauses Ragout vor, dessen Genuß selbst als Kriegsspeise noch unter aller Kanone ist.    Scheidemann hat – bei seiner angeborenen Schläue ist das durchaus verständlich – im voraus gewußt, daß die Solinger bei seinem Erscheinen auf Hausschlüsseln pfeifen und „Schauspieler“ rufen würden. Deshalb hat er auch gelächelt, denn er hatte ja wieder einmal recht gehabt. An den Vorgängen ist natürlich nicht seine, sondern unsere Politik schuld. Wie könnte auch seine schuld sein! Hat er doch dem Volke 139 Milliarden Mark bewilligt! Macht rund 2000 Mark pro Säugling (politische eingerechnet). Er hat dem Volke die schönen Steuern bewilligt. Allein die Kriegsgewinnler sollen 5 Milliarden blechen. Was gibt das später ein Leben! Wenn nur diese Engländer nicht wären! Aber es geht vorüber. Die Herren v[on] Hertling, v[on] Hintze, v[on] Capelle, v[on] Hindenburg und die Bürgerlichen Scheidemann und Ludendorff werden sich mit den Engländern verständigen. Was machte dagegen die B[ergische] A[rbeiterstimme] für eine Politik! Es ist zum Erbrechen!


   Scheidemann ist mit einem großen Uebel behaftet: er leidet an einer maßlosen Selbstüberschätzung! Er meint ganz ernsthaft, unsere Politik sei ihm auf den Leib geschnitten und er liest unser Blatt nur unter diesem Gesichtspunkt. In seinem Artikel zählt er nun eine Reihe Dinge auf, in denen wir eine andere politische Auffassung vertraten wie er.    Das beginnt mit der Steuerpolitik, in der wir nicht umgelernt haben, sondern die Stellung für richtig hielten und noch halten, welche von der früheren Partei bis zum Parteitag von 1913 eingenommen wurde. In den Beratungen über diese Frage schloß sich die übergroße Mehrheit der Solinger Parteigenossen unserer Auffassung an, ohne daß sie wußte, welche Stellung dazu von Scheidemann eingenommen wurde, und ohne daß wir diese Stellung kannten. Es gehörte niemals zu Scheidemanns Stärke, in grundsätzlichen Fragen eine bestimmte Meinung zu haben.


   Was Scheidemann mit Rosa Luxemburg auszufechten hatte, wissen wir im Moment nicht, auch nicht, in welchen Zusammenhang er unsere politische Haltung damit bringen kann. Rosa Luxemburg sitzt seit über zwei Jahren in Schutzhaft und der damalige leitende Redakteur unseres Blattes für fünf Jahre in Groß-Strehlitz. Es ist also ein Phantasiebild, das Scheidemann malt.


   Scheidemann schreibt von einem Belagerungszustand, den die Solinger Parteileitung über ihn verhängt habe. Die große Mehrheit der Parteigenossen des Kreises war eben nicht mit der Politik der Fraktionsmehrheit einverstanden und lehnte Anträge der Parteileitung, ihn kommen zu lassen, ab. Daran trägt er persönlich die Schuld. In den Steuerfragen benutzte er eine große Volksversammlung, um entgegen den getroffenen Abmachungen den Beschluß der Parteiversammlung aufs schärfste anzugreifen. Die Parteigenossen selbst hielten trotzdem die übliche Disziplin und schwiegen, aber sie waren recht erbost und wollten sich solchen Ueberfällen nicht wieder aussetzen.
  

   Scheidemann weiß, daß, als er im ersten Kriegs jahr einer stark besuchten Vertrauensmännersitzung in Solingen seine Politik plausibel machen wollte, er mit ⅔ Mehrheit abfiel, dasselbe wurde im zweiten Kriegsjahr wiederholt und hier fiel er auf ⅚ Mehrheit ab. Für jeden Denkenden ist es klar, daß die weitere Politik der Regierungssozialisten die Zahl der Anhänger dieser Politik nicht vergrößerte, sondern verkleinerte.


   Scheidemann war im September 1916 in Solingen und hat gesprochen. Damals haben die Arbeiter ihn schweigend angehört. Alle seine Versuche, mit den Massen in Konflikt zu kommen, scheiterten an deren frostiger Ablehnung. Ein dienstfertiger und jetzt belohnter Kuli erfüllte damals den regierungs-sozialistischen Blätterwald mit falschem Ruhmesgeschrei. Das hat sich diesmal gerächt! Damals klappte die Regie des großen Journalisten Scheidemann vorzüglich. Er telegraphierte selbst noch nachts an den Vorstand in Berlin und morgens flatterten die Siegesmeldungen vom Pressebureau der Partei hinaus. Dann folgten die falschen Schilderungen des besagten Kuli in der Presse. Scheidemann hat das Vertrauen der Solinger Bevölkerung verloren. Die Geschichte des Kreises lehrt ihn, daß er es mit seinen Kunststücken nicht wieder erwerben kann. Seine Leute werden bis zum Kriegsende einigen Staub auf-
wirbeln können, dann wird die allgemeine Abrechnung sie wieder in die alte Solinger Parteiorganisation zurückführen.


   Wir können verraten, daß die Haltung der Zeitung unseren Genossen nie scharf genug war und wir vor der Preßkommission immer unsere angeblich laue Haltung zu rechtfertigen hatten.
  

   Das eine können wir Scheidemann versichern: Wenn wir in der Bekämpfung des Regierungssozialismus, seiner Preisgabe der Grundsätze der früheren Partei und der Verfechtung unserer Auffassungen, mehr als uns lieb war, seinen Namen nennen mußten, dann lag das daran, daß eben Scheidemann die von uns bekämpfte Politik in erster Reihe in der Oeffentllichkeit vertrat. Es kommt dazu, daß er dieser Politik einen persönlichen Charakter aufdrückte. Wenn Scheidemann die Gabe hat, sich bei der Beurteilung des Gegners in dessen Auffassungen zu versenken, dann wird er verstehen, daß die zahlreichen Gewaltakte gegen u n s e r e Genossen und u n s e r e Presse bei uns eine Summe von Unmut gegen seine politische Richtung haben aufhäufen lassen, daß wir Kaltblüter sein müßten, wenn nicht auch uns manchmal der Gaul durchgehen würde.


   Den Abg[eordneten] Scheidemann als Person und als Politiker halten wir nicht für so bedeutend, wie er sich selbst hält, und es liegt uns fern, unsere Politik auf seine Person zuzuschneiden.